Emotional erledigt.

Das war jetzt ganz schön viel nur in zwei Monaten. Erst eine Maßnahme, wo die Pädagogen Null Ahnung von Autismus haben. Vermeidbarer Overload inklusive. Dann stirbt mein Opa. Brauche eine Woche mich davon ansatzweise zu erholen. Dann, dass die Beerdigung an einem Samstag sein soll. Und auf die Verwandtschaft von dieser Seite bin ich alles andre als scharf. Die räumlichen Verhältnisse auf dem Friedhof doof. Dann das Bombardement auf Israel, die Angriffe auf Synagogen auch hier in Deutschland nur in den vergangenen 3 Tagen. Alles zusammen grade etwas arg viel.

Versuchen, mich zu sortieren. Morgen Abend ist Unterricht. Dann fahre ich Sonntag allein zum Friedhof, um mich zu verabschieden. Danach sind Feiertage, dann schon sehr bald verlängertes Wochenende. Darauf hab ich noch einen Termin. Das letzte Mai-Wochenende kommt ein Freund, an dem Sonntag habe ich dann den ersten Impftermin. Und ganz nebenbei muss in dieser Zeit auch noch Post vom Nachlassgericht kommen. Mir graut es ein bisschen davor. Denn: Mir blüht eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter. Dass seit Jahren kein Kontakt mehr besteht, hat seinen Grund.

Ich brauche jetzt viel Kraft, den Sommer irgendwie zu überleben…

Oberflächlichkeit

Ich dachte, dass ich eine gute, kurze Erklärung gefunden habe, warum ich tue, was ich tue. Beim genaueren darüber nachdenken fällt mir allerdings auf, dass mein Gesprächspartner darüber nachdenken müsste, was die einzelnen Begriffe bedeuten könnten. Nur, dass ich kaum Leute kenne, die so weit denken (wollen). Es gibt wenige Leute, mit denen ich mich in der Tiefe unterhalten kann, die sich gerne die Zeit nehmen. Für die meisten ist ein Fünfminutengespräch lang genug. Wie geht’s? Was machst du so? Irgendwelche Pläne? Das war und ist oft das ganze Gespräch. Auf diese Art kann ich kaum von meinem Kummer erzählen, ist kein Platz für die interessante Erkenntnis. Es sei denn, dass sie auch meinem Gegenüber direkt nutzt. Muss aber alles einen praktischen Nutzen haben?

Oft scheint es so, dass sich viele nicht um ihre Mitmenschen scheren. Sie bewerten andere nur nach dem ersten Eindruck und geben einem nie die Chance, sich ganz anders darzustellen. Ich gebe mir redlich Mühe, den anderen zu verstehen. Oft wird es nicht honoriert, sondern einfach vorausgesetzt. Es wird oft erwartet, dass ich mich anpasse. Aber andere machen keine Anstalten, verstehen zu wollen, warum ich was mache. Die meisten sehen wirklich nur, was vor Augen ist.

Bist du ernsthaft körperlich krank wird plakativ herumgejammert, wie schrecklich das sei. Im nächsten Moment wird gefragt, ob das denn wieder wegginge. Wenn nein, wird man bemitleidet, wie schrecklich man es getroffen hätte. Wenn du Kummer hast, wirst du an professionelle Seelenklempner (Pfarrer, Psychologen und ähnliches) verwiesen, obwohl schlicht zuhören es schon getan hätte. Man müsste sich ja für seinen Mitmenschen Zeit nehmen, die man ja nicht hat.

Manchmal frage ich mich, wie die Leute ihre Partner gefunden und ihre Kinder großgezogen haben. Manchmal frage ich mich, wie die im Beruf zurechtkommen, wenn der vor allem aus Kundenkontakt besteht. Besonders bitter, da von meinen Bekannten die meisten in der Kirche sind. Das wollen Christen sein, wenn sich Empathie und Mitmenschlichkeit in engen Grenzen halten?

Wie können so viele Leute so oberflächlich und ohne Tiefgang durch die Gegend laufen? Ich kapier diese Gesellschaft nicht. Kapier sie nicht. Wenn sich jeder selbst der nächste ist, muss das zu einer zutiefst unmenschlichen Gesellschaft führen. Wer kann das wollen? So irrational.

Wer ist Wir?

Gute Frage. Wer bildet eigentlich die Gruppe, wenn ich von Wir rede? Interessant ist allerdings auch, wer dieses Wir nicht bildet. Mal sehen.

  1. ◻ Die Person(en) und ich, die eine Sache beschlossen haben
  2. ◻ Eine Gruppe, deren (offizielles) Mitglied ich bin
  3. ◻ Eine Gruppe mit einer gemeinsamen Aufgabe, einem gemeinsamen Projekt
  4. ◻ Familien-Wir, das für mich nicht wirklich existent ist
  5. ◻ Das religiöse wir, deren Glauben ich teile
  6. ◻ Nationales Wir, so nicht als Variante zu 2., schwierig
  7. ◻ Ethnisches, abstammungsmäßig bestimmtes Wir: Einerseits Problem wie 4. und vorheriges
  8. ◻ Ein ortsbezogenes Wir: Leute mit mir am selben Ort

Mein Begriff von Wir ist gebunden an

  • formalen Kriterien
  • Gemeinsamem Handeln

Nur die Familie als Abstammungsgemeinschaft ist ein Totalausfall. Im Hòchstfall, dass ich einen Partner finde, um eine eigene Familie zu gründen. Eine Lücke, die das Judentum zu füllen vermag. Es ist die Lücke von 6. Das wir der religiösen Gemeinschaft ist es mit Juden sowieso. Ein Über-Wir, dass weder auf Bekanntschaft, noch auf formalen Mitgliedschaften beruht, war lange nicht existent. Jetzt scheint es so etwas zu geben. Und doch mag ich mich ohne formale Mitgliedschaft nicht darauf berufen. Schwierig.

Wie viel ist jetzt noch Bekanntschaft wert? Wer ist Wir, wenn Gelegenheiten, sich zu treffen, rar sind? Im Grunde hielte nur ein Über-Wir alles zusammen. Was die Kirchgemeinde angeht, ist dieses nicht existent. Betreffs der Synagogengemeinde existiert es ohne sich zu kennen, zumindest von meiner Seite aus. Schon verrückt.

Übersehen und unterschätzt werden

Ich muss mich bemühen, von meinen Bekannten wahrgenommen zu werden. Ich muss anrufen, damit ein Gespräch zustande kommt. Ich muss ein Gespräch beginnen, damit ein Hallo nicht alles war.

Dabei geht so viel in mir vor. Dabei möchte ich so viel los werden. Ich möchte nicht einfach Bericht erstatten, was passiert ist. Es gibt so viel in mir, dass ich gerne jemand erzählen möchte. Dafür hat bloß kaum einer Zeit.

Oft sitze ich am Tisch mit anderen, finde aber nur selten den richtigen Punkt etwas zu sagen. In Gremien sind die anderen schon beim nächsten Thema, bevor ich das erste richtig durchdacht habe. Ich hätte ja durchaus Ideen. Ich hätte ja was beizutragen. Aber ich werde oft von anderen vorpreschenden überrollt.

Dass ich alleine irgendwo hin fahre, wurde mir nicht zugetraut. Dass ich eine Andacht halten kann, wurde mir nicht zugetraut. Alle waren erstaunt, als ich letztes Jahr heil und glücklich wieder zurückkam. Jetzt haben etliche Kummer, dass ich dort einsam sein könnte, wo ich hinziehen möchte. Es gibt etliche, die sich meine Motive, zum Judentum konvertieren zu wollen, nicht vorstellen können. So was hätte man anders machen können? Und ob ich es überhaupt schaffe.

Ist schon verrückt: Meine Wohnung kann ich mit Mühe in Ordnung halten. Eine passende Arbeit nicht in Sicht. Und doch schaffe ich es punktuell, aus meinem vertrauten Umfeld raus zu kommen. Ich schätze Stabilität, aber ich ziehe um, wenn zu vieles nicht mehr passt. Ich merke gerade, dass viele Beziehungen an der Kirchgemeinde hängen, mit wiederum mich idealerweise der Glaube verbindet. Weil der Glaube das nicht mehr tut, bricht der Kontakt zur Kirchgemeinde weitgehend weg, mit ihm meistenteils meine Sozialkontakte. Für mich ist es jetzt essentiell, diese durch neue zu ersetzen. Das Verständnis für die Zusammenhänge hält sich in meinem Umfeld etwas arg in Grenzen.

Das ist über Jahre so gewesen und ballt sich jetzt alles. Corona gibt es noch obendrauf. Ist kaum zum Aushalten. Ich hoffe mal, dass das in der jüdischen Gemeinde besser werden kann. Mit dem Rabbiner weiß schließlich mindestens eine Person darum.

Veränderungen durch Corona

Gerade jetzt, wo jede äußere Struktur flöten geht, muss ich mir eine neue schaffen. Der Chor, der Bibelkreis, die Gottesdienste fallen ja alle aus. Mittwochs eine ältere Dame besuchen fällt auch aus. Immerhin telefonieren wir miteinander. Mein soziales Netzwerk ist auf die Nachbarn über mir, diese eine ältere Dame und noch zwei andere Frauen zusammengeschrumpft. Da merke ich dran, wie viele Kontakte eigentlich überhaupt nur durch die regelmäßigen Veranstaltungen zustande kamen. Die eine der zwei anderen Damen erreiche ich überwiegend abends per Telefon. Mit der anderen schreibe ich auch viel über WhatsApp.

In dieser Situation habe ich mir feste Gebetszeiten angewöhnt. Und eine feste Aufsteh- und Zubettgeh-Zeit. Das Gebet gehört zur Morgen- und Abendroutine. Dazu ein Nachmittagsgebet gegen 14 Uhr. Außerdem ist jetzt umso wichtiger, Monatsanfänge und Wochenenden bewusst zu registrieren. Das heißt auch, dass ich mir eine virtuelle Gebetsgemeinschaft suche, um andernorts an einem gestreamten Gottesdienst teilzunehmen. Vor Ort sind logischerweise nur die notwendigsten Leute: ein Prediger, ein Organist/Kantor, ein Lektor, der Küster, ggf. noch jemand für die Technik – also wenn es hoch kommt maximal 7 Personen. Das werde ich dieses Wochenende testen. Vor allem würde sich der Shabbat (=Samstag) nicht so sehr dehnen wie Gummi, wenn es denn klappt. Andrerseits ist der Shabbat eine willkommene Pause von den gefühlt ständigen Meldungen über Corona. Die Hebräisch-Einheit sonntags nach dem Mittag ist ein fester Termin, der mir aus Vor-Corona-Zeiten erhalten geblieben ist, vor allem, weil er ohnehin als Fernunterricht stattfindet.

Da der Tag nicht nur aus Gebeten bestehen kann, nehme ich mir je für Vormittag und für Nachmittag eine Aufgabe vor. Auf die Art und Weise erledige ich Stück für Stück den Frühjahrsputz. Langsam muss ich mir auch überlegen, was ich über die Feiertage essen will. Das heißt, ein erheblich verlängertes Wochenende. Ich hoffe mal, dass auch zu den Feiertagen Gottesdienste gestreamt werden.

Ich hoffe jetzt einfach mal, dass die Beschränkungen nicht allzu lange anhalten. Sonst wird es irgendwann ziemlich langweilig. Und ich sitze irgendwann auf gepackten Koffern, ohne zu wissen, wann ich sie woanders auspacken kann. Die Gebetszeiten werden mir sicher auch nach Corona erhalten bleiben. Der Kurs ist irgendwann beendet. eine Putzroutine jede Woche, einkaufen. Dazwischen eine Menge Zeit, die gefüllt werden will. Im Moment fällt mir ja noch dieses oder jenes ein (Frühjahrsputz, Essen für die Feiertage, ausmisten, Zeug weggeben, Übungen für Hebräisch, ein paar Kleinigkeiten), aber spätestens ab Mitte Juni würde es kriminell. Dann ist das meiste erledigt. Außer beten, Putzen, Einkaufen, die Hebräisch-Einheit, zwischendurch Wäsche waschen würde dann nicht mehr viel passieren.

Außerdem will ich hier immer noch weg. Das wäre ein willkommenes Projekt. Ein auch nur ansatzweise vorhandenes Gemeindeleben würde es mir erheblich erleichtern, anzukommen. Andrerseits fand ich vor Corona den Spagat zwischen meinem theologischen Empfinden und der weiteren Teilnahme am Gemeindeleben in der Kirchgemeinde grässlich ohne Aussicht auf baldige Lösung. DAS hat sich von selbst erledigt für den Moment, hält es bis einschließlich Juni an, auch ganz. Ich weiß noch nicht, was schlimmer ist: Unter Menschen einsam sein oder meistens alleine einsam sein. Das werde ich dann feststellen in ein paar Wochen. Andrerseits hat die Qualität der Kontakte zugenommen. Ich wage da noch keine Prognose.

Die zwei Seiten der Medaille namens Coronavirus

Was soll ich von der aktuellen Corona-Krise halten? Sie bedeutet:

  • mit dem Ausfall sämtlicher Veranstaltungen auch der meisten Kontaktstellen zu anderen Personen
  • da außer den Supermärkten, den Apotheken und Tankstellen hier nichts offen hat, keine nennenswerten Möglichkeiten, auszugehen (Okay, mit eingepacktem Proviant eine Tour in den nahen Wald, aber das war es dann)
  • Käme eine Ausgangssperre hier, könnte ich eine ältere Bekannte ich fast nur noch besuchen, wenn ich gleichzeitig für sie einkaufen kann. Auch so sollte ich sie tendenziell möglichst selten besuchen.
  • Sozialkontakte bestehen im Wesentlichen aus „via WhatsApp schreiben.“ Okay, ab und zu bringt mir die Nachbarin etwas zu essen. Oder ich kann mal kurz zu ihr kommen auf einen Cappuccino, wenn der Gatte ausgeflogen ist (was jetzt nicht sooo oft passiert)
  • Eine geplante Israel-Reise für den Sommer kann ich mutmaßlich canceln, ich (wie alle Ausländer) darf ja nicht nach Israel rein.
  • ABER: statt für mich mangels Auto nicht erreichbaren Treffen finden jetzt in der Jungen Union eher Videokonferenzen statt
  • ABER: Was an Einbindung in die Kirchgemeinde zuletzt belastend war, hat sich bis auf Weiteres erledigt.
  • ABER: Weil ja auch die Synagogengottesdienste ausfallen, vermehren sich in diesem Bereich die Streaming-Angebote. Ein Problem war ja bisher immer der nicht unerhebliche Weg. Eine Strecke ist so lang wie der Shabbat-Morgengottesdienst – und länger als der Freitagabendgottesdienst.
  • ABER: Ich habe jetzt zwangsläufig sehr viel Zeit für den Frühjahrsputz
  • ABER: Ich hoffe mal, dass die Aktion mit den Einkaufsdiensten gut angenommen wird hier. Dann würde ich auch neue Leute kennenlernen
  • ABER: Die aktuelle Krise erweist sich als Motor für die Digitalisierung. Plötzlich gibt es viel mehr Kontaktmöglichkeiten per E-Mail.
  • ABER: Der Verkehr auf der Bundesstraße hat merklich abgenommen – und mit ihm der zugehörige Lärm.
  • ABER: Es sind insgesamt weniger Leute unterwegs oder im Laden. Es ist nicht mehr so stressig unterwegs zu sein. Nur das Wetter sollte mitspielen.

Ich werde die nächsten paar Wochen genug damit zu tun haben, eine neue Routine zu finden. Mein Ziel ist noch, rechtzeitig Pessach-ready zu werden, d. h. den Frühjahrsputz abgeschlossen und Matzen besorgt (und auch sonst entsprechend eingekauft) haben. Der Vor-Pessach-Einkauf muss dann für fast 2 Wochen sein, weil ich spätestens am 7. April einkaufen muss und in der Folgewoche nur 2 Gelegenheiten zum Einkaufen habe (die ich nicht zwingend nutzen müssen will). Bis zum Ende der Osterferien gehen auch erstmal alle Verordnungen. Meine große Frage ist: „Was kommt danach? Wie lange halten die mehr oder weniger starken Beschränkungen an?“ Eine definitive Aussage, wann wieder Otto-Normal-Gottesdienste stattfinden können, wäre schon hilfreich – und wenn dieser Zeitpunkt Monate in der Zukunft liegt. Meine persönliche Prognose ist, dass diese starken Beschränkungen locker bis zum Beginn der Sommerferien Anfang Juli anhalten, vielleicht auch noch einschließlich dieser. Das lässt sich überleben. Dann wäre das Thema Kirche für mich erledigt. Nur Gewissheit hätte ich gern, auf welchen Zeitraum ich mich einrichten muss. Der Haken allerdings ist, dass diese Gleichung im Moment noch zu viele Unbekannte hat:

  • Wie weit die Ausbreitung durch die aktuellen Maßnahmen eingedämmt werden kann,
  • wie schnell das Gesundheitssystem Intensiv-Betten und auch sonst Kapazitäten aufbauen kann,
  • wie schnell die Testkapazitäten erhöht werden können
  • wann man einschätzen kann, ob ein Strategiewechsel möglich ist auf nur noch besonders vulnerable Gruppen zu isolieren und die anderen Einschränkungen merklich runterzufahren (nicht auf Null, aber ein Unterschied schon zu spüren)
  • Vom Ideenreichtum der Verantwortlichen auf allen Ebenen
  • wie effektiv sich das Virus wirklich ausbreitet
  • ob, und wenn ja, für wie lange jemand nach überstandener Infektion immun ist
  • wie hoch die Dunkelziffer tatsächlich ist, da es schon weitergegeben werden kann, bevor sich Symptome zeigen.

An ein paar Dingen ändert sich gerade nichts: Ich würde mich gerne mit dem Rabbiner und Gemeindegliedern in Erfurt persönlich unterhalten, was auf die Entfernung schwierig ist. Ich möchte gerne nach Erfurt umziehen, was sich nicht von heute auf morgen erledigt. Hinzu kommt bloß die Frage, ob es einen Sinn hat, an meinem ursprünglichen Plan festzuhalten. Argumente:

  • Bis dahin sind es noch etwa 5 Monate, in denen viel passieren kann.
  • Zur Zeit macht es keinen wirklichen Unterschied, wo ich mich befinde
  • Wenn ich umgezogen bin, bevor der Normalbetrieb der Kirchgemeinde wiederkehrt, käme das Hakeln mit selbiger damit nicht wieder
  • Bin ich vor der Wiederkehr der Synagogengottesdienste umgezogen, hatte ich Zeit alles zu regeln und neue Routinen zu bilden.
  • ABER: Ist der Abstand zur Wiederaufnahme der Gottesdienste mehrere Monate, kann sich die Zeit in einer neuen Stadt erst recht wie Gummi ziehen. Immerhin könnte ich mich für die Älteren als Einkäufer erbieten.

Ein Impfstoff wird nicht wesentlich vor Jahresende flächendeckend zur Verfügung stehen. Und nach den High Holidays ist schneller November als mir lieb. Überhaupt Faktor Zeit. Die Zeit, die sich im Moment anfühlt wie Gummi, ist das kommende Vierteljahr. Aber das war auch ohne Corona schon so. Bereits Anfang Januar habe ich mich gefragt, wie ich das nächste halbe Jahr überstehen soll. An diesem grundsätzlichen Problem hat sich auch mit Corona nichts geändert. Komme ich einmal ins Handeln, fühlt sich die Zeit nicht mehr so ewig lang an. Eine Sache steht jetzt schon fest: 2020 wird bei mir als das Jahr eingehen, in dem meine Routinen drei Mal durcheinandergebracht und neu justiert werden mussten. Allerdings ist das nicht grundsätzlich schlecht. Schließlich hat sich schon 2019 angekündigt, dass die Dinge nicht so bleiben konnten wie sie waren. Auf das zusätzliche Durchschütteln durch das Virus hätte ich zwar gern verzichtet. Aber sei es wie es sei, schließlich ist es nicht ausschließlich eine Katastrophe. Das Virus hat ja durchaus seine Vorzüge.


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Definiere „mutig“

„Das ist/war jetzt aber mutig“ Diesen Satz habe ich in den letzten Jahren immer mal wieder zu hören bekommen. Er bezog sich auf sehr unterschiedliche Situationen. Der oder diejenige bewundert mich für meinen Mut. Sicher haben diese Dinge jeweils ein bisschen Mut gefordert. Aber im Einzelfall war das jetzt keine sooo große Leistung.

Es geht um

  1. sich hinstellen und etwas vortragen
  2. Verantwortung in der Gemeinde übernehmen für einen bestimmten Bereich
  3. ganz alleine irgendwohin fahren, mit dem Zug innerhalb Deutschlands oder alleine nach Israel
  4. jenseits offizieller Dialogveranstaltungen den Kontakt mit Juden suchen, dafür ggf. auch weit fahren
  5. eine Arbeit außerhalb des ortsnahen Bereichs suchen (ortsnah = höchstens 10 km Umkreis), noch mutiger: auf Dauer der Arbeit wegen umziehen müssen

zu 1. mit der Routine geht es dann ganz gut. Außerdem mache ich nur, wovon ich sicher bin, dass ich es hinbekomme. Ich kann lesen. Ich kann singen. Ich kann einen (Bibel-)Text in einem gregorianischen Singsang vortragen. Ich kann Wechselgebete mir ausdenken.

zu 2. nun ja, irgendwer muss es doch machen. Andrerseits fällt es natürlich auf mich zurück, wenn ich dem dann nicht wie erwartet nachkommen kann. Ich kann nachvollziehen, dass sich da keiner darum prügelt: Ohne dich läuft nichts, du bekommst keinen Penny dafür, leider selten Anerkennung, dafür hacken sie auf dir rum, wenn etwas nicht funktioniert. Deswegen findet man in der Kirchgemeinde dafür kaum Leute. Weil ich aber will, dass alles funktioniert, mache ich es doch.

zu 3. Ich kann ja auch ständig zu Hause hocken. Gleichwohl ist jedes Unterwegs sein immer ein Risiko. Allerdings fragt mal „Frau Umtriebig“, die genauso durch das ganze Land reist. Ist es deswegen weniger mutig, nur weil sie ihre zahlreichen und weit verstreuten Abkömmlinge besucht? Was sonstige Risiken betrifft: Bleibt mal auf dem Teppich (RW)! Glaubt ja nicht, dass es hier in unserem kleinen Städtchen zwangsläufig sicherer ist als irgendwo sonst. Was Corona angeht, haben wir es noch gut. Hier im Kreis gibt es im Moment „nur“ einen bestätigten Fall.

Update: Inzwischen sind es drei Fälle.

zu 4. Wo ist das Problem? Außer vielleicht die Erreichbarkeit, siehe Punkt 3. Fragen kostet nichts. Die werden nicht „Nein“ sagen. Oder ist es die Angst, etwas falsch zu machen? Dabei ist das einzige, das von dir erwartet wird, offen zu sein und Erklärungen anzunehmen.

zu 5. Hauptsache Arbeit, oder? Ich bin dann eben nicht innerhalb von einer Viertelstunde zu Hause. Was einen potentiellen Umzug betrifft: Sicher ist es Aufwand. Sicher würde ich an einem anderen Ort komplett bei Null anfangen. Die andere Frage ist, ob ich überhaupt auf Dauer hier bleiben möchte. Die Antwort: Nein. Hier ist es mir langfristig dann doch zu beschaulich.

Wieder jemand anderes bewundert mich, wie ich den Mut aufbringe, selber nach Hilfe zu fragen, mir die Dinge aus eigener Kraft zu arrangieren. Es ist eine Bewunderung dafür, dass ich lebe, noch nicht psychisch kaputt gegangen bin, obwohl mein Leben genügend Gründe dafür bereithielt, zumindest schwere Depressionen zu entwickeln oder gar mich umzubringen. Was war es oft: Der Mut der Verzweiflung und ein Überlebenswillen.

Was mutig ist, hat sich in meinem Leben inzwischen gewaltig verschoben. War es noch in der 8. Klasse schon mutig, dass ich alleine auch nur in den Nachbarort gefahren bin, ist es heute eher eine Leistung, den bisherigen Wohnort und mit ihm alle sozialen Bezüge dort aufzugeben für eine neue, größere Stadt und eine neue Gemeinde, die mit der bisherigen nicht viel gemein hat. Eine Herausforderung ist es sicher, ein Risiko. Die Alternative wäre „Stehen bleiben. Versauern.“

Im Allgemeinen heißt für mich mutig, etwas neues zu wagen, Risiken einzugehen. Mutig sein heißt oft auch, sich etwas zuzutrauen, Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten zu haben und das Ur-Vertrauen, dass es nie so schlimm kommt wie befürchtet. Nach dem Motto: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und jedes noch so finstere Tal hat einen Ausgang.“

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23, Vers 4). Vielleicht ist das mein größter Mut, so viel (Gott-)Vertrauen aufzubringen, um selbst in der schlimmsten Krise nicht zu verzweifeln.

Wo gehöre ich hin?

Wo gehöre ich hin? Wo gehöre ich dazu? Wer bin ich? Das sind alles Fragen, die ich mir in letzter Zeit öfter gestellt habe. Identität – die meine will neu kalibriert werden. Identität, sie hat viele Ebenen:

  • – familiär: Meine Eltern, meine Großeltern und weiteren Vorfahren, meine Geschwister, sonstige Verwandten
  • – beruflich: Hier hatte ich lange keine vernünftige Idee, wie es weitergehen könnte. Nun hoffe ich, dass das mit der letzten Bewerbung klappt.
  • – biografisch: Herausforderungen, prägende Erlebnisse, im Guten wie im Schlechten, da gibt es inzwischen einiges.
  • – geografisch: der Ort, den man kennt, den ich Zuhause nenne, wo ich weiß, wo es lang geht.
  • – formal und legal: meine Staatsangehörigkeit, wo ich gemeldet bin, Mitgliedschaften wo auch immer (Vereine, Kirche, Partei)
  • – sozial: eine Gruppe, in der ich akzeptiert bin, wo ich eingebunden bin, eine Funktion habe, vertraute und funktionale Normen vorfinde
  • – kulturell: mein Kunst- und Musik-Geschmack, welche Texte ich als wertvoll empfinde, wie ich auf die Geschichte und die Politik schaue, welche Sprache mich anspricht, gemeinschaftliche Rituale, Veranstaltungen von Interesse
  • – Betroffene bei gewissen Themen: als Mieter, als Kunde, als Schwerbehinderte, als Autistin, als Anwohnerin, als Patientin …
  • – als Interessierte und/oder Engagierte zu gewissen Themen: ein gepflegtes Hobby, ein politisches Anliegen
  • – religiös: das geteilte Bekenntnis, was ich als Heilige Schrift betrachte, was für mich ein tragfähiges Glaubensgerüst ist

Was ich verändern muss: Die geografischen Grenzen muss ich ausweiten, um eine Arbeitsstelle zu haben. Die wiederum nur möglich ist, weil mich die Erfahrung lehrt, dass es in meinem Leben in schönster Regelmäßigkeit mehr oder weniger große Veränderungen gibt. Sozial und kulturell-religiös passt nicht mehr zusammen. Das muss es aber, wenn ich zufrieden sein will. Das Interesse und Vereinsmitgliedschaften (z. B. die DIG) harmonieren wiederum mit den kulturell-religiösen Aspekten. Dazu hat sich verschoben, welche Orte ich zu Hause nenne, ganz unabhängig von der Arbeit. Alles in allem will sich alles um den Dreh- und Angelpunkt Judentum/Israel gruppieren.

Nur von Seiten der Herkunftsfamilie gibt es dem Anschein nach keinen Bezug. Was wiederum nichts heißen muss. Ich weiß nur kein Argument dafür, eins, das zwingend dagegen spricht, allerdings auch nicht. Das muss wohl im Dunkeln bleiben. Meine Herkunftsfamilie spielt jetzt auch keine so große Rolle. Vielmehr glänzte meine Sippe mit Abwesenheit. Im Fall meiner Eltern bin ich sogar ganz froh drüber – kein Ärger. Andrerseits fällt die Sippe als Quelle von Unterstützung mehr oder weniger komplett aus, so dass das sonstige soziale Netz eine große Bedeutung hat.

Wo gehöre ich hin? Wo gehöre ich dazu? Wer bin ich? Wie fällt meine Antwort darauf aus? Es ist nicht meine bisherige Heimatstadt, nicht die Kirchgemeinde. Deutschland inzwischen auch nur bedingt – „Danke AfD“ (Ironie). Die Vorstellung „Glied der jüdischen Gemeinde der Landeshauptstadt“ fühlt sich für mich bislang als das stimmigste Konzept an, von dem ich sagen kann „Ich bin …“. Bei nichts vorher hat sich so viel ineinander gefügt. Vor allem habe ich inzwischen den Eindruck, dass das Ganze doch ziemlich nachhaltig ist und mir nicht nach einer gewissen Zeit wieder zerfliegt. Darauf kann ich jetzt wohl sicher meine Entscheidungen aufbauen.

Bei der Gemeinde anklopfen ist zwar immer noch eine Hürde, immerhin keine unüberwindbare mehr. Bitten, ob ich offiziell konvertieren könnte. Wirklich. Und trotzdem: krass. Aus der Kirche bin ich viel schneller draußen als mit der jüdischen Gemeinde warm geworden. Zwischenzeitlich unvermeidlich in der Luft hängen. Vermutlich einmal den ganzen Jahreslauf durch. Heftig. Es ist ein radikaler Schnitt, alles auf Null. Das neue muss erst wachsen. Eine harte Phase des Nicht-mehr und Noch-nicht steht mir bevor. Halte ich das aus?


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Be(un)ruhigende Regelmäßigkeit

Ich war so am drüber nachdenken über mein Leben. Dabei ist mir in den wichtigen Punkten eine gewisse Regelmäßigkeit aufgefallen. Und eine wiederkehrende Anzahl: 13 (Wochen, Tage, Monate, Jahre). Dabei ist der kommende Sommer sowohl das Ende eines solchen Zyklus als auch die Halbzeit eines anderen). Außerdem werde ich dieses Jahr 29. So viel wie ein Mondmonat volle Tage hat. In einem Monat des jüdischen Kalenders mit 29 Tagen.

Weil die Anzahl 13 so regelmäßig vorkommt, mache ich mir so meine Gedanken, was in 6,5 oder 13 Jahren ist. Die nächsten 6,5 Jahre werden vielleicht eine Zeit des Übergangs. Und dann? Im letzten Sommer ist ein Traum entstanden: Aliyah. Da wäre aber auch noch der Traum von einer eigenen Familie. In 13 Jahren bin ich 42 (6 x 7). Vielleicht ändern sich dann die Rhythmen.

Auf eine Art ist es allerdings beruhigend. Ich kann ganz grob absehen, was die nächsten Jahre auf mich zu kommt, auch wenn ich jetzt noch nichts genaues weiß. Da ich am kommenden Donnerstag ein Vorstellungsgespräch habe, ist es bestimmt nicht schlecht, eine Vorstellung von der mittelfristigen Zukunft zu haben.

„Dein Wille geschehe“

Wie oft beten wir es mit dem Vaterunser einfach runter ohne ernsthaft drüber nachzudenken. Sehr oft. Weiß einer, was das heißt? Es heißt nicht immer nur, dass alles wunderbar und perfekt sein soll, wie sich Gott das vorgestellt hat. Es kann auch heißen, die Zumutungen des Lebens dennoch demütig aus seiner liebenden Hand zu nehmen. Es ist ein unbedingtes Vertrauen auf Gott, was auch immer passiert, dass er es gut mit uns meint.

Ich verstehe deine Wege nicht. Aber du weißt den rechten Weg für mich.

Dietrich Bonhoeffer

Das kann – wie bei Dietrich Bonhoeffer – so weit gehen, erhobenen Hauptes zur Hinrichtung zu gehen. Es kann heißen, schwere Schicksalsschläge zu akzeptieren. Für mich heißt es jetzt, mit dem Bisherigen abzuschließen, anzunehmen, dass hier und jetzt ein Lebensabschnitt unwiderruflich endet, das neue zu umarmen, freudig zu erwarten. Es heißt aber auch, den Übergang irgendwie gestalten zu müssen.

Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem weinenden Auge, weil das Vergangene auch schön war. Die Leute hier mag ich immer noch. Worauf ich mich aber freue: Neue Möglichkeiten, spirituell irgendwo ankommen, eine Perspektive, einen Grund, auf dem ich etwas aufbauen kann, eine Zukunft. Es war schön hier, aber langfristig ist mein Platz doch woanders.

Jetzt bete ich es ganz bewusst: „Ja, dein Wille geschehe.“ Dein Wille geschehe und nicht meiner. Ich nehme an, dass Veränderungen anstehen, ich in eine neue Gemeinschaft komme. Denn der Ewige meint es gut mit mir. Ja, Amen.