„Das ist/war jetzt aber mutig“ Diesen Satz habe ich in den letzten Jahren immer mal wieder zu hören bekommen. Er bezog sich auf sehr unterschiedliche Situationen. Der oder diejenige bewundert mich für meinen Mut. Sicher haben diese Dinge jeweils ein bisschen Mut gefordert. Aber im Einzelfall war das jetzt keine sooo große Leistung.
Es geht um
- sich hinstellen und etwas vortragen
- Verantwortung in der Gemeinde übernehmen für einen bestimmten Bereich
- ganz alleine irgendwohin fahren, mit dem Zug innerhalb Deutschlands oder alleine nach Israel
- jenseits offizieller Dialogveranstaltungen den Kontakt mit Juden suchen, dafür ggf. auch weit fahren
- eine Arbeit außerhalb des ortsnahen Bereichs suchen (ortsnah = höchstens 10 km Umkreis), noch mutiger: auf Dauer der Arbeit wegen umziehen müssen
zu 1. mit der Routine geht es dann ganz gut. Außerdem mache ich nur, wovon ich sicher bin, dass ich es hinbekomme. Ich kann lesen. Ich kann singen. Ich kann einen (Bibel-)Text in einem gregorianischen Singsang vortragen. Ich kann Wechselgebete mir ausdenken.
zu 2. nun ja, irgendwer muss es doch machen. Andrerseits fällt es natürlich auf mich zurück, wenn ich dem dann nicht wie erwartet nachkommen kann. Ich kann nachvollziehen, dass sich da keiner darum prügelt: Ohne dich läuft nichts, du bekommst keinen Penny dafür, leider selten Anerkennung, dafür hacken sie auf dir rum, wenn etwas nicht funktioniert. Deswegen findet man in der Kirchgemeinde dafür kaum Leute. Weil ich aber will, dass alles funktioniert, mache ich es doch.
zu 3. Ich kann ja auch ständig zu Hause hocken. Gleichwohl ist jedes Unterwegs sein immer ein Risiko. Allerdings fragt mal „Frau Umtriebig“, die genauso durch das ganze Land reist. Ist es deswegen weniger mutig, nur weil sie ihre zahlreichen und weit verstreuten Abkömmlinge besucht? Was sonstige Risiken betrifft: Bleibt mal auf dem Teppich (RW)! Glaubt ja nicht, dass es hier in unserem kleinen Städtchen zwangsläufig sicherer ist als irgendwo sonst. Was Corona angeht, haben wir es noch gut. Hier im Kreis gibt es im Moment „nur“ einen bestätigten Fall.
Update: Inzwischen sind es drei Fälle.
zu 4. Wo ist das Problem? Außer vielleicht die Erreichbarkeit, siehe Punkt 3. Fragen kostet nichts. Die werden nicht „Nein“ sagen. Oder ist es die Angst, etwas falsch zu machen? Dabei ist das einzige, das von dir erwartet wird, offen zu sein und Erklärungen anzunehmen.
zu 5. Hauptsache Arbeit, oder? Ich bin dann eben nicht innerhalb von einer Viertelstunde zu Hause. Was einen potentiellen Umzug betrifft: Sicher ist es Aufwand. Sicher würde ich an einem anderen Ort komplett bei Null anfangen. Die andere Frage ist, ob ich überhaupt auf Dauer hier bleiben möchte. Die Antwort: Nein. Hier ist es mir langfristig dann doch zu beschaulich.
Wieder jemand anderes bewundert mich, wie ich den Mut aufbringe, selber nach Hilfe zu fragen, mir die Dinge aus eigener Kraft zu arrangieren. Es ist eine Bewunderung dafür, dass ich lebe, noch nicht psychisch kaputt gegangen bin, obwohl mein Leben genügend Gründe dafür bereithielt, zumindest schwere Depressionen zu entwickeln oder gar mich umzubringen. Was war es oft: Der Mut der Verzweiflung und ein Überlebenswillen.
Was mutig ist, hat sich in meinem Leben inzwischen gewaltig verschoben. War es noch in der 8. Klasse schon mutig, dass ich alleine auch nur in den Nachbarort gefahren bin, ist es heute eher eine Leistung, den bisherigen Wohnort und mit ihm alle sozialen Bezüge dort aufzugeben für eine neue, größere Stadt und eine neue Gemeinde, die mit der bisherigen nicht viel gemein hat. Eine Herausforderung ist es sicher, ein Risiko. Die Alternative wäre „Stehen bleiben. Versauern.“
Im Allgemeinen heißt für mich mutig, etwas neues zu wagen, Risiken einzugehen. Mutig sein heißt oft auch, sich etwas zuzutrauen, Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten zu haben und das Ur-Vertrauen, dass es nie so schlimm kommt wie befürchtet. Nach dem Motto: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und jedes noch so finstere Tal hat einen Ausgang.“
„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23, Vers 4). Vielleicht ist das mein größter Mut, so viel (Gott-)Vertrauen aufzubringen, um selbst in der schlimmsten Krise nicht zu verzweifeln.